Inklusion unter Corona-Bedingungen im Landkreis Tirschenreuth: Situationen - Erfahrungen - Folgerungen

Inklusion im Corona-Stresstest stark gefährdet
12 Schlussfolgerungen

Eine Studie des Netzwerks Inklusion Landkreis Tirschenreuth
Christina Ponader / Friedrich Wölfl

 

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Förderung Druck:
Bundesprogramm "Demokratie leben!"

Publikationen:
DBSH - ForumSozial 01/2021
Wohlfahrt intern 09/2021
DJI - Gemeinsam leben

Anlass der Studie und Zusammenfassung

Hintergrund und Anlass für die Studie war die besondere Pandemie-Situation im Landkreis Tirschenreuth in den Monaten März bis Sommer im Jahr 2020. Die außerordentlich hohe Zahl von Infizierten und im Zusammenhang mit dem Corona-Virus Verstorbenen verschaffte der Region in den bundesdeutschen Medien über Monate hinweg eine besondere Aufmerksamkeit. Insgesamt fehlte jedoch bei allen Betrachtungen der Blick auf die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen von Maßnahmen auf das Zusammenleben und die soziale und psychische Situation der Menschen, insbesondere der Menschen mit Behinderungen. Mit diesen Fragen beschäftigte sich ab Sommer 2020 das „Netzwerk Inklusion Landkreis Tirschenreuth“.

In der vorliegenden Studie wurden zwei Zielgruppen befragt: Selbstvertreter:innen mit Behinderung, Angehörige und Personen mit öffentlichen Funktionen im Bereich Inklusion sowie soziale Einrichtungen, Vereine und öffentliche Institutionen aus dem Bereich Inklusion. Insgesamt schilderten 30 Personen aus 23 Haushalten und 45 Einrichtungen ihre Erfahrungen. Da Fallberichte, persönliche Erlebnisse und Eindrücke erhoben wurden und keine statistischen Befunde, besteht immerhin eine starke „anekdotische Evidenz“. Daraus wurden 17 Porträts und typische Lebenssituationen und 14 Arbeitsfelder und 12 Thesen zu Erwartungen und Forderungen an staatliche und gesellschaftliche Akteur:innen entwickelt.

Themen und Fazit:

  • Wegfall der Unterstützung
  • verstärkte Durchhaltementalität
  • Vergrößerung der sozialen Unterschiede
  • Vereinsamung und Isolation
  • unzureichende Information und Kommunikation
  • Einrichtung von (digitalen) Ersatzangeboten
  • Verschärfung der sozio-ökonomischen Problemlagen
  • fehlende Differenzierung
  • individuelle Verhaltensänderungen und Verzichtsleistungen
  • psychische Belastung
  • Überforderung
  • fehlende Repräsentation
  • Solidarität und Ignoranz.

Insgesamt kommen die Autor:innen zum Fazit: Inklusion ist einem Stresstest ausgesetzt und stark gefährdet.

Alle Entscheidungen in der Pandemie werden im Spannungsfeld zwischen Schutz und Teilhabe und Entlastung getroffen. Hier braucht es eine gut verantwortete Abwägung und es gibt kein eindeutiges "Richtig" oder "Falsch". Wichtig ist jedoch: Wir wollen dafür einstehen, den Menschen mit Behinderungen, ihren Angehörigen und Inklusion in den Einrichtungen und Institutionen eine Stimme zu geben und die Situation sichtbar zu machen, in aller Komplexität und Ambivalenz.

Inklusionsgipfel - im Gespräch mit der Politik

Das Netzwerk Inklusion Landkreis Tirschenreuth und der Landkreis Tirschenreuth veranstalten
am Donnerstag, 07.10.2021 von 14 bis 17 Uhr
im Gästehaus St. Joseph, Basilikaplatz 2, 95652 Waldsassen
einen Inklusionsgipfel mit Vertreter:innen aus der Politik
zum Thema „Inklusion: Vom Glück dazuzugehören - erst recht in Pandemiezeiten“

Ausgehend von der Studie des Netzwerks „Inklusion unter Corona-Bedingungen im Landkreis Tirschenreuth“ haben wir die Ergebnisse auf dem „Inklusionsgipfel“ am 07.10.2021 mit politischen Entscheidungsträger:innen von Landkreis bis Landesebene fachlich und auf der Grundlage sehr praktischer Erfahrungen diskutiert.

Diese Kernthemen standen im Zentrum: die Berücksichtigung von Menschen mit Behinderung und ihren besonderen Bedürfnissen auch in schwierigsten Zeiten, die Bedeutung einer grundsätzlich inkludierenden Sichtweise in Politik und Verwaltung, Fragen der Finanzierung sowie die Frage nach einem noch effektiveren „sozialen Lobbyismus“ in Gesellschaft und Politik.

Im ersten Teil haben wir in zwei Phasen in Panels parallel gearbeitet und uns ausgetauscht, im zweiten Teil die Ergebnisse in einer Plenumsrunde zusammengetragen.

Folgende Bereiche wurden in den Panels gemeinsam diskutiert:
1. Arbeiten
2. Wohnen
3. Lernen
4. Freizeit & Assistenz

Moderator:innen in den Panels:
Christina Ponader (Netzwerk Inklusion Landkreis Tirschenreuth)
Friedrich Wölfl (Mitglied des Vorstands der Lebenshilfe KV Tirschenreuth / ehrenamtl. tätig im Netzwerk Inklusion)
Andrea Kraft (Bezirksreferentin Oberpfälzer Lebenshilfen)
Thomas Fehr (ehem. Vorsitzender PSAG Nordoberpfalz)

Teilnehmende:
Landrat Roland Grillmeier
Kreistag  CSU – Bernd Sommer
Kreistag Freie Wähler Hans Klupp
Regierungsvizepräsident Florian Luderschmid
Bezirksrat CSU - Toni Dutz
Bezirksrätin SPD - Brigitte Scharf
Landtag CSU - Tobias Reiß
Landtag SPD - Annette Karl
Landtag Grüne - Anna Schwamberger
Behindertenbeauftragter Bayern – Holger Kiesel
Bezirk Oberpfalz Stabsstelle Teilhabe - Thomas Kammerl
Stiftlandwerkstätten Mitterteich
Integrationsfachdienst
Wohnheim St. Benedikt
STZ Nordoberpfalz
Studie Wohnen aus dem Umfeld der Lebenshilfe
FÖZ Mitterteich
AUW
OBA-FeD
BRK KV Tirschenreuth
Schulamt Tirschenreuth
SHG Behinderte-Nichtbehinderte Lkr TIR
Behindertenbeauftragte:r Lkr TIR
SOS Kinderdorf Oberpfalz
Runder Tisch Arbeit und Inklusion
Lebenshilfe KV Tirschenreuth

Zusammenfassung aus dem Inklusionsgipfel

Ergebnisse der Panels:

Panel Arbeiten:

  • Pandemiemaßnahmen müssen bzw. sollen unter Beteiligung von Selbstvertreter:innen partizipativ erarbeitet und bedacht werden.
  • Die Unterstützung und Entlastung von Eltern von Menschen mit Behinderung ist erforderlich, wenn Menschen mit Behinderung ihre tagesstrukturierenden Maßnahmen nicht mehr besuchen dürfen und den gesamten Tag zu Hause betreut werden müssen.
  • Erhalt und Schaffung von Nischenarbeitsplätzen auf dem 1. Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung. Finanzielle Anreize und Förderprogramme für Firmen des 1. Arbeitsmarkts schaffen.
  • Verlängerung und Verbesserung von Fördermaßnahmen der Arbeitsagentur in Firmen auf dem 1. Arbeitsmarkt für Praktikas von Menschen mit Behinderung
  • Sicherstellung der Leistungsangebote

Panel Wohnen:

  • Lange Zeit gab es keinen persönlichen Kontakt zu den Angehörigen in stationären Einrichtungen. Das darf so nicht wieder vorkommen.
  • Die Einbindung der Betroffenen in die Ausgestaltung der konkreten Corona Schutzmaßnahmen, bspw. in stationären Pflege-oder Behinderteneinrichtungen, hat völlig gefehlt und führte bei den Betroffenen zu einem Gefühl der totalen Fremdbestimmung.
  • Personal in stationären Wohn-und Pflegeeinrichtungen war sehr belastet mit den ganzen Schutzmaßnahmen, Umsetzung der Vorschriften. Zusätzlich zu dem sowieso schon vorhandenen sehr hohen Dokumentationsaufwand, den man in Zukunft ebenfalls mal überdenken sollte, führte dies zu Überlastungen beim Personal. Erschwerend kamen Personalmangel durch Krankheit und Kündigungen durch Mitarbeiter hinzu.
  • Das Verhältnis von Eigenverantwortung/Risiko von Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf, als der Schutzgedanke versus den Freiheitsgedanken, selbst über sein Leben entscheiden zu können, sollte gerade vor dem Hintergrund der Regelungswut und Fremdbestimmung in der Pandemiezeit neu ausgelotet werden.
  • Der Weg hinsichtlich Wohnen sollte generell in Richtung eines inklusiven Gemeinwesens gehen, dass von den Strukturen her dann auch in der Lage ist, in solchen Krisenzeiten flexibel veränderte Bedarfe aufzufangen. Ausreichend Wohnformen für alle Bedürfnislagen sollten geschaffen werden. Es sollte eine feste Struktur für Nachbarschaftshilfe geschaffen werden, die auch ausreichend finanziert wird.

Panel Lernen:

  • Fehlende Berücksichtigung der speziellen Bedürfnisse von Kindern und jungen Leuten mit Behinderung (Notwendigkeit von persönlicher Nähe/ soziale Kontakte/ Zuverlässigkeit von betreuenden und stützenden Maßnahmen); ebenso fehlende Berücksichtigung der Bedürfnisse der sie pflegenden Angehörigen und der besonderen Bedingungen für das professionelle Personal in Schulen, Förderstätten und Therapieeinrichtungen;
  • Mangelhafte Kommunikation in vielen Fällen z. B. zwischen Ministerien und Schulen (Kurzfristigkeit der Entscheidungen/Verständlichkeit/Presse als schnellster Übermittlungsweg?/Zuverlässigkeit)
  • Mangelnde Einheitlichkeit von Regelungen seitens der verschiedenen Ämter: fehlende inhaltliche wie zeitliche Abstimmung von Vorgaben und ihren Änderungen zwischen Ministerien und Behörden (Absprachen vor allem in Notzeiten besonders wichtig)
  • Ungünstige Verstärkung struktureller Mängel aus VorCorona-Zeiten, betrifft Kompetenzzuordnungen/fehlende Berücksichtigung (z.B. von Förderschulen/Schulvorbereitenden Einrichtungen) /Personalmangel in Schulen und Einrichtungen,
  • ausbleibende oder schleppende Kontakte/Nachfragen/Evaluationen seitens der entscheidenden Stellen und Behörden zu den Auswirkungen ihrer Maßnahmen; verschenkte Chancen für praxisnäherer Nachsteuerung von Maßnahmen auf der Basis der Erfahrungen aus dem Alltag
  • Anregungen und Lösungen: Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen, wirksamer Lobbyismus, partizipative Verfahren statt Verordnungen, Prävention statt Krisenmodus

Panel Freizeit / Assistenz:

  • Niedrigschwelliger Zugang zu Beratung für Vereine und Organisationen in Sachen Hygienekonzept und sichere Veranstaltungsplanung in Pandemie-Zeiten notwendig - z.B. Mobile Beratung / Servicecharakter der Behörden
  • Unverständlichkeit der Corona-Regelungen: starker Kontrast im Maß der Komplexität für Veranstaltungen mit großen Teilnehmendenzahlen und kleinen "Lebens- und Freizeiteinheiten" wie Sport, gemischte Freizeitgruppen etc.
  • Digitalisierung ist nicht flächendeckend für Menschen mit Behinderungen nutzbar und interessant
  • Vorschlag: Digitales Teilhabepaket der Eingliederungshilfe inkl. Ausstattung, Internetverträge, Schulung (kontinuierlich). Umgang mit Digitalität muss ebenso erlernt werden!
  • Unbürokratische Unterstützung der Träger / Vereine bei Mehraufwand (Mobilität, Digitalität) um die Flexibilität der Hilfen zu gewährleisten